In der frühen Kindheit legen feinfühlige Bindungsinteraktionen mit konstant verfügbaren und fürsorglichen Bezugspersonen die Grundlage für eine gesunde Entwicklung von Gehirn und Nervensystem. Diese sog. Co-Regulation, also die unterstützende emotionale Begleitung durch die Eltern ermöglicht es uns, mit der Zeit eine eigenständige und effektive Selbstregulation unserer Gefühle zu erlernen.

Das Konzept des "Window of Tolerance"
Dr. med. Dan Siegel, Professor für Psychiatrie an der School of Medicine der Universität von Kalifornien, prägte den Begriff “Window of Tolerance”, um die Reaktionen von Gehirn und Körper zu verstehen und zu beschreiben, insbesondere nach schwierigen Erfahrungen.
Gemäß seiner Definition beschreibt das “Window of Tolerance” (siehe unten in der Abbildung der grüne Bereich) den optimalen Erregungsbereich, in dem wir emotionale
Höhen und Tiefen erleben können, ohne überfordert zu werden. Innerhalb dieses Bereichs können wir Schmerz, Angst, Wut oder Erschöpfung empfinden, aber in der Regel Strategien anwenden, um uns
selbst zu regulieren, d.h. wieder alleine oder mit Hilfe anderer für uns bedeutsamer Personen in unsere Balance zurück zu finden.
Welche Auswirken haben Bindungsunsicherheit oder Trauma auf unser "Window of Tolerance"?
Erlebte Traumata oder unerfüllte Bindungsbedürfnisse in der Kindheit, die nicht verarbeitet wurden, können das Nervensystem auch im Erwachsenenleben erheblich unter
Druck setzen und unsere freie Lebensgestaltung stören. Lesen Sie dazu auch gerne meinen Artikel über die Stress-Hyper-Response-Period.
In der Folge werden unsere Sinneswahrnehmungen intensiver und unsere Strategien zur Regulation sind schwerer zugänglich, wenn wir sie überhaupt angemessen erlernen konnten. Schlussendlich wird unser "Window of Tolerance" (Stress-Toleranz-Fenster) enger, wodurch es schneller zu emotionaler Überforderung kommt.

Die verschiedenen emotionalen Stresszustände
Komfort-Zone - das sog. Calm Arousal - sollte der Normalzustand sein:
- Wir pendeln tagsüber innerhalb des Stress-Toleranz-Fensters zwischen den verschiedenen Ebenen der Ruhe und normalen Erregung hin und her.
- Wenn wir einmal durch ein Ereignis aus der Balance geraten, können wir in angemessener Zeit wieder durch uns bekannte Strategien zu unserer Mitte finden.
Hyperarousal (Übererregung - Fight/Flight Strategie):
- Ursachen: Angst, Schmerz, Wut, Verzweiflung, Ohnmacht, bzw. weitere Traumatrigger.
- Merkmale: Übermäßige Aktivierung (z. B. Angst, Panik, emotionale Überflutung).
-
Folgen: u.a. Schlafstörungen, Verdauungsprobleme, Schwierigkeiten, Emotionen zu regulieren, andauernde körperliche Schmerzen, chronische Verspannungen oder
andere psychosomatische Symptome.
Hypoarousal (Untererregung - Freeze Strategie):
- Ursache: Überforderung durch Hyperarousal.
- Merkmale: Abschalten, Erschöpfung, Depression, emotionale Taubheit, Dissoziation.
-
Folgen: Übermäßiges Schlafbedürfnis, Erschöpfung, Appetitlosigkeit, Gefühl der emotionalen Leere, Freudlosigkeit, Gleichgültigkeit, übermäßiges
Rückzugsbedürfnis.
Das Zusammenspiel aus Hyper- und Hypoarousel
Menschen können nicht dauerhaft in einem dieser Extrem-Zustände verweilen und versuchen sich - oft unbewusst - durch unterschiedliche Strategien zu regulieren.
- Hyperarousal: hier wird oft mit allen möglichen Mitteln versucht, die Übererregung einzudämmen, wie z.B. übermäßiger Fokus auf Sport, Arbeit, Aktivitäten im Außen, sedierende Drogen, o.ä. Wenn Gehirn und Körper die Übererregung nicht mehr aushalten, erfolgt irgendwann ein sog. Shut-Down, also ein radikaler Wechsel in das Hypoarousal.
- Hypoarousal: hier versuchen Menschen oft unbewusst alles daran zu setzen, um sich wieder lebendig(er) zu fühlen, z. B. durch aufputschende Drogen, riskantes Verhalten, o.ä.
Diese Selbstschutzmechanismen zeigen, dass unser schlauer Organismus darauf ausgerichtet ist, weiterzuleben, selbst in extremen Zuständen.
Menschen ohne Erfahrung mit Regulation in der Kindheit, bzw. unsicheren Bindungsmustern oder nach nicht verarbeiteten Traumata wissen oft nicht, wie sie sich selbst
regulieren können und verstehen oft nicht, dass ihr körperliches Erleben eigentlich ein Hinweis für seelische Wunden ist.

Effektive Stress-Regulation und das "Wahre Zuhause"
“Das falsche Zuhause”
Das sind Strategien, die nur kurzfristig helfen, langfristig jedoch im Hinblick auf unsere Gesundheit und unsere Beziehungen schädlich sind (z. B. Substanzmissbrauch, Arbeitssucht, Sportsucht, ständige Beziehungsabbrüche, etc.)
Die Folge sind eine Verstärkung der Probleme, Scham- und Schuldgefühle und Beziehungsprobleme im Privaten und in der Arbeit.
“Das wahre Zuhause”
Hier können wir Strategien anwenden, die uns in den optimalen Erregungsbereich zurückführen und unsere Kompetenzen stärken, ohne uns selbst oder anderen Schaden
zuzufügen (z.B. Meditation, Entspannungsübungen, Unterstützung durch Therapie oder bei Freunden und Familie holen, wobei die Eigenverantwortung im Vordergrund steht, Massagen, Yoga und
Körpertherapien).
Gesunde Strategien - die individuelle Mischung macht's
Der Schlüssel liegt darin, herauszufinden, was wann funktioniert. Manchmal können bestimmte Aktivitäten beruhigend oder erdend wirken, während dieselbe Aktivität zu anderen Zeiten anregend sein kann.
Probieren Sie verschiedene Methoden aus und finden Sie heraus, was für Sie am besten funktioniert. Üben Sie diese Strategien regelmäßig und in entspannten Momenten – so dass Sie sie leichter abrufen können, wenn Sie beginnen, sich überfordert zu fühlen.
Aktivitäten zur Reduktion von Erregung (Deeskalation)
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Atemübungen: Zwerchfellatmung (tiefe, langsame Bauchatmung, bei der man länger aus- als einatmet)
- Trinken durch einen Strohhalm
- Berührung: generell körperliche Nähe, Massagen, Gehaltenwerden, Gestreicheltwerden
- Bewegung: Therapie- oder Yogaball gegen eine Wand werfen oder Trampolinspringen (Mini-Trampolin)
- Schütteln oder Stampfen zur Ableitung überschüssiger Energie
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Druck und Wärme: Gewichtsdecken und Warmwasser-Anwendungen
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Schwerarbeit: Körperliche Aktivitäten wie Liegestütze, Gewicht-Heben, in Ganzkörperspannung zu versuchen, die Wand wegzuschieben.
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Musik: Beruhigende, entspannende Klänge, Singen und Tanzen
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Comfort-Food: z. B. eine heiße Schokolade oder etwas Warmes, Deftiges.
Aktivitäten zur Steigerung von Erregung (Aktivierung):
- Sinnesstimulation: Riechen von ätherischen Ölen, vor allem Lavendel oder Kauen von knusprigen oder zähen Lebensmitteln
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Bewegung: Trampolinspringen oder sanftes Wippen auf einem Therapieball, wildes Tanzen mit rhythmischer Musik, generell Sport (allerdings nie
über die individuelle Belastungsgrenze hinaus, also bitte kein "Auspowern")
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Kreative Aktivitäten: Fingerfarben, Töpfern, Musikinstrument lernen, etc.
- Spielen mit Wasser, z. B. Blasen mit einem Strohhalm machen
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Sensorische Eingaben: Verwendung eines Sensorikballs (z. B. Bällebad) oder einer Gewichtsdecke
- Schaukelstuhl für rhythmische Bewegungen
Die Kraft der Natur: Die heilende Wirkung des Waldes

Der Wald hat eine nachweislich heilende Wirkung auf den Menschen.
Studien belegen, dass bereits der Anblick des Waldes Stress reduziert: Der Blutdruck sinkt, der Puls verlangsamt sich und das Stresshormon Cortisol nimmt ab.
Das sogenannte Waldbaden nutzt gezielt die Sinneseindrücke des Waldes – von Gerüchen über Geräusche bis hin zur optischen Wahrnehmung.
Besonders Terpene, die von Bäumen freigesetzt werden, haben eine positive Wirkung auf das Nervensystem. Forschungen zeigen, dass sich im Wald der präfrontale Cortex entspannt, wodurch sich Grübeleien verringern und das allgemeine Wohlbefinden verbessert.
Darüber hinaus stärkt der Wald das Immunsystem. Studien belegen, dass Aufenthalte im Wald die Produktion von Killerzellen, die Krebszellen bekämpfen, signifikant steigern. Diese Wirkung hält mehrere Tage an. Das Konzept des Waldbadens gilt als vielversprechender Ansatz, um die psychische und physische Gesundheit zu fördern.
Die Kraft der Natur - Ätherische Öle - von wegen Esoterik
Aber die Natur hält noch weitere Schätze für uns bereit. So können wir in der Aromatherapie Düfte finden, die nachweislich unser Nervensystem beruhigen. Sie bedienen das sog. GABA-System, das für die Beruhigung in unserem Organismus zuständig ist.
Diese potente entspannende und angstlösende Wirkung entfalten vor allem:
- Lavendel
- Thymian (Tymol)
- Jasmin (Vertacetal)
- Orange
Andere Düfte wiederum haben eine anregende Wirkung, wie z.B.:
- Minze
- Kalmus
- Rosmarin
- Zitrone

Selbst wenn wir in unserer Kindheit keine gesunde Selbstregulation lernen konnten, ist es möglich, dies nachzuholen. Mit einem sicheren therapeutischen Setting, das auch immer wieder den Fokus auf das Körpererleben lenkt, kann sich unser Nervensystem Schritt für Schritt neu ausrichten und unser "Window of Tolerance" kann größer werden.
Unser Gehirn und unser Körper generell besitzen die bemerkenswerte Fähigkeit, sich durch wiederholte positive Erfahrungen neu zu organisieren. Gesunde Beziehungen können uns helfen, frühe unsichere Bindungen zu heilen, so dass wir uns in unserem Leben sicherer und geborgener fühlen können. Dieser Prozess geht leider nicht von heut' auf morgen, sondern braucht Zeit. Man erarbeitet sich sozusagen die sichere Bindung, die in der Kindheit gefehlt hat und lernt auf diese Weise, besser mit Stress umzugehen und so zufriedener und resilienter zu werden.

Quellen:
Ochiai, H.; Ikei, H.; Song, C. Physiological and Psychological Effects of a Forest Therapy Program on Middle-Aged Females. International Journal of Environmental
Research and Public Health, USA, 2015, 12, 15222–15232.
Tsunetsugu, Y.; Park, B.J.; Miyazaki, Y. Trends in research related to ‘‘Shinrin-yoku’’ (taking in the forest atmosphere or forest bathing) in Japan. Environmental
Health Prevention Medicine, 2010, 15, 27–37.
Park, B.J.; Tsunetsugu, Y; Kasetani, T.; Kagawa, T.; Miyazaki, Y.; The physiological effects of Shinrin-yoku (taking in the forest atmosphere or forest bathing):
evidence from field experiments in 24 forests across Japan. Environmental Health Prevention Medicine, 2010, 15, 18–26.
Park, B.J.; Tsunetsugu, Y.; Kasetani, T.; Hirano, H.; Kagawa, T.; Sato, M.; Miyazaki, Y. Physiological effects of Shinrin-yoku (taking in the atmosphere of the
forest)—Using salivary cortisol and cerebral activity as indicators. Journal of Physiological Anthropology. 2007, 26, 123–128.
Prof. Dr. Hatt, https://www.ev-akademiker.de/wp-content/uploads/EFW_Vortrg20111017-HATT.pdf